Rivera, Uruguay: Zwischen Pferdekarren und Parfümschmuggel – Ein Tag an der ruhigsten Grenze Südamerikas
Von Johannes Rinderspacher

Uruguay – das kleine Land zwischen den Giganten Brasilien und Argentinien – trägt seit
Jahren einen fast schmeichelhaften Spitznamen: die Schweiz Südamerikas. Und in vielerlei
Hinsicht passt der Vergleich. Es ist sicher, stabil, modern. Bildung, Sozialpolitik und
Infrastruktur gelten als vorbildlich. Die Kriminalitätsrate ist niedrig, die Demokratie stark,
der Lebensstandard hoch – und die Preise ebenso. Ein Kaffee in Montevideo kann schnell so
viel kosten wie in Berlin-Mitte. Drogenkartelle, Korruption und Gewalt wie in vielen
anderen Ländern der Region? Hier Fehlanzeige.
Doch dann kam ich in Rivera an. Eine Kleinstadt im Norden Uruguays, direkt an der
brasilianischen Grenze. Und obwohl ich journalistisch stets auf der Suche nach dem
„Unerzählten“ bin – ich fand erst einmal nichts.
Stille Stadt, stiller Grenzübergang
Rivera ist kein Ort, an dem sich das Leben in den Vordergrund drängt. Es ist ruhig, sauber,
unaufgeregt. Die Straßen leer, die Gesichter freundlich. Ich sah Pferdekarren statt
Motorlärm, wartete an einer Kreuzung auf eine Mitfahrgelegenheit. Um mich herum zogen
argentinische Anhalter vorbei, auf dem Weg nach Brasilien, vorbei an Grenzbeamten, die
eher wie Parkwächter wirken. Nichts schien hier verdächtig. Nichts dramatisch.
Bis mich zwei Männer aus Brasilien auflasen. Sie leben eigentlich in Miami, wie sie sagten,
und waren auf dem Weg nach Montevideo. Sechs Stunden Fahrt, genug Zeit für ein
Gespräch. Zunächst ging es um ihr Business mit Parfüms – sie importieren, verkaufen,
umgehen Zölle an der Grenze. Eine Anekdote aus dem Alltag, dachte ich.
Doch dann kam Stunde vier.
Was als belangloses Roadtrip-Gespräch begann, nahm plötzlich eine andere Wendung. Einer
der Männer – höflich, charmant, gut gekleidet – erzählte von seiner „Verwaltung“
brasilianischer Frauen. Sie arbeiten im Sex-Business: als Prostituierte, als Live-Cam-Girls,
einige auch in den USA. Ihr Geld – oft in Bar – wird durch ihn verwaltet und über die Grenze
nach Brasilien geschleust. Nicht aus krimineller Absicht, wie er es ausdrückte, sondern um
Familien zu unterstützen. Mütter, Kinder, Geschwister. Das sei seine Aufgabe, sein Beitrag.
Sexarbeit als Einkommensquelle
Es ist ein Phänomen, das sich in Lateinamerika verbreitet hat: Online-Sexarbeit als
lukrative, wenn auch gesellschaftlich stigmatisierte Möglichkeit, Geld zu verdienen. Vor
allem für junge Brasilianerinnen – auch in Miami. Die wirtschaftliche Ungleichheit, die
fehlenden Jobperspektiven, die Inflation, die pandemiebedingte Arbeitslosigkeit – all das
hat sie in eine Industrie gedrängt, die auf Knopfdruck global funktioniert.
Cam-Girls, wie sie genannt werden, verdienen über Plattformen mit Abonnenten aus aller
Welt. Für viele ist es der einzige Weg, an ein Einkommen zu kommen. Die Wahl ist oft keine
wirkliche. Es ist die Option zwischen Armut und einem digitalen Leben, das sie
anonymisiert und zugleich ausbeutet. Und dennoch gibt es Männer wie den, mit dem ich
unterwegs war, die diesen Frauen helfen, ihr Geld nach Hause zu bringen. Nicht ganz legal,
aber scheinbar loyal.
Ein verstörend friedlicher Kontrast
Als ich neben diesem Mann saß, mit dem wir später per Facetime mit einem seiner
„Schützlinge“ sprachen – einem jungen Mädchen mit ernsten Augen – konnte ich nicht
anders, als den Kontrast zu spüren. Wir fuhren durch eine traumhafte Landschaft. Saubere
Straßen, grasende Rinder, plätschernde Musik aus dem Radio. Er zeigte mir seinen
Kontostand auf dem Handy – weit über Hunderttausende. Er zahlte meinen Kaffee, lachte
viel, war zuvorkommend.
Und doch war alles, was er erzählte, ein Teil einer grauen Realität. Kein Kartell, kein
Gewaltverbrechen. Kein Versteckspiel in dunklen Ecken. Sondern eine gut funktionierende,
stille Struktur. Die Grenze von Rivera als neuralgischer Punkt. Uruguay – dieses so sichere,
so europäische Land – als Drehscheibe für Geldflüsse, die ganz andere Geschichten erzählen.
Das Bild trügt – auch in der Schweiz Südamerikas
Dieses Foto, das ich an der Grenze gemacht habe, zeigt einen ganz normalen Tag. Menschen
auf der Straße. Nichts Bedrohliches. Frieden, Ordnung, Stille. Und doch weiß ich jetzt: Auch
hier, an einem der friedlichsten Orte des Kontinents, gibt es versteckte Realitäten.
Nicht alle Kriminalität ist laut. Manche ist leise. Manchmal ist sie nur ein Gespräch, eine
Facetime-Verbindung, ein schwarzer Rucksack voller Geld. Kein Moment fühlte sich
gefährlich an – doch selten war ich so nachdenklich.
Denn selbst im ruhigsten Winkel Südamerikas bleibt die Frage: Wie viel passiert eigentlich
dort, wo scheinbar nichts passiert?