Chocó, Kolumbien: Leben auf Stelzen – Zwischen Natur, Wandel und Bedrohung
Von Johannes Rinderspacher

Fünf Tage durch den dichten Regenwald – fünf Tage durch feuchte, undurchdringliche
Natur, in der der Boden unter den Füßen immer weicher wird, bis er schließlich in Wasser
übergeht. Am Ende der Reise taucht ein Bild auf, das sich tief ins Gedächtnis brennt: ein
abgelegenes Fischerdorf, Häuser auf Stelzen, Menschen, die mit dem Wasser leben – und
gleichzeitig gegen es kämpfen.
Die Region Chocó, tief im kolumbianischen Regenwald, ist eine der isoliertesten Gegenden
des Landes. Hier, wo die Natur alles dominiert, existiert eine Welt, die kaum jemand
außerhalb kennt. Die Einwohner leben vom Meer, vom Fischfang, vom Wald – aber sie leben
auch mit den Gefahren, die diese Umgebung mit sich bringt. Kriminalität, Armut,
Drogenhandel und bewaffnete Gruppen sind Teil der Realität. Doch eine Bedrohung wächst
still und unaufhaltsam: das Wasser steigt.
Ein Leben auf Stelzen – Flucht und Anpassung zugleich
Die Häuser in Chocó stehen auf Holzpfählen, hoch über dem Boden. Nicht, weil die
Menschen diesen Bau aus ästhetischen Gründen gewählt haben, sondern aus
Notwendigkeit. Das Wasser steigt, regelmäßig, vorhersehbar – und doch jedes Jahr ein
Stück höher. Während es früher nur in der Regenzeit zu Überschwemmungen kam, sind die
Pegel heute unberechenbarer. Manche Familien müssen ihre Häuser nach wenigen Jahren
anpassen, die Pfähle verlängern oder ganz neue Unterkünfte bauen.
Doch das Wasser ist nicht nur eine Bedrohung – es ist gleichzeitig die Lebensgrundlage der
Menschen hier. Das Meer gibt ihnen Nahrung, der Urwald versorgt sie mit allem, was sie
brauchen. Doch je weiter der Ozean vordringt, desto schwieriger wird es, sich dieser
Umgebung anzupassen.
Der Klimawandel erreicht den Regenwald
Viele denken bei der Klimakrise an Eisbären, die auf schmelzenden Eisschollen treiben,
oder an ausgedörrte Landschaften. Doch in Chocó zeigt sich eine andere Seite der
Katastrophe. Die Menschen hier haben nichts mit den Industrienationen zu tun, die diesen
Wandel vorantreiben, doch sie sind diejenigen, die ihn mit aller Härte zu spüren bekommen.
Durch das Schmelzen der Gletscher in den Anden und den steigenden Meeresspiegel wird
die Region zunehmend unbewohnbar. Flüsse treten über die Ufer, Salz dringt in das Grundwasser ein, macht den Boden unfruchtbar. Immer öfter müssen Familien ihre Dörfer verlassen und ins Landesinnere ziehen – in eine Zukunft, die ungewiss ist.
China und der neue Einfluss im Regenwald
Doch es sind nicht nur Naturgewalten, die das Leben in Chocó verändern. Der
wirtschaftliche Einfluss Chinas wächst rasant in Lateinamerika – und auch hier im
abgelegenen Regenwald ist das spürbar. Der globale Rohstoffhunger treibt Unternehmen in
die Region, auf der Suche nach Gold, Holz und strategischen Metallen.
Was das für die Menschen hier bedeutet?
• Bergbauprojekte zerstören Flüsse und vergiften das Wasser
• Illegale Abholzung raubt den Gemeinden ihre natürliche Lebensgrundlage
• Bewaffnete Gruppen nutzen den Rohstoffboom für sich – oft mit brutaler Gewalt
Die Menschen in Chocó haben kaum eine Stimme in dieser Entwicklung. Sie sehen, wie sich
ihre Umgebung verändert, wie ihr Land verkauft wird, wie neue Straßen gebaut werden, die
nicht für sie, sondern für ausländische Investoren gedacht sind.
Ein Dorf, das für eine globale Krise steht
Das Fischerdorf, ist ein Mikrokosmos all dieser Entwicklungen. Die Häuser auf Stelzen erzählen die Geschichte eines Kampfes gegen das Wasser – aber auch gegen eine Zukunft, die ungewisser ist als je zuvor.
Die Kinder, die aus den Fenstern schauen, werden in einer Welt aufwachsen, die härter sein
wird als die ihrer Eltern. Die Fischer, die heute noch hinausfahren, wissen nicht, ob sie
morgen genug Fische fangen werden, um ihre Familien zu ernähren. Und die Alten, die die
Veränderungen still beobachten, haben bereits zu viele Zyklen von Hoffnung und
Enttäuschung erlebt, um noch an eine einfache Lösung zu glauben.
Chocó ist eine der ärmsten Regionen Kolumbiens – aber es ist auch eine der schönsten, eine
der ursprünglichsten. Doch die Frage bleibt: Wie lange noch? Wie lange, bis die Menschen
nicht mehr zurück ins Haus, sondern nur noch hinaus aus der Region fliehen können?
Denn wenn das Wasser weiter steigt, wenn der Wald weiter schwindet, wenn die Rohstoffe
weiter abgebaut werden, dann wird dieses Dorf nicht das letzte sein, das sich fragt, wie
lange das Leben auf Stelzen noch möglich ist.